“Meine Füße reichen nirgendwohin“, immersive audio drama installation, Saarländisches Künstlerhaus (2024) (Photo: Hyunju Oh)
„Mutterboden“ - das ist in im gängigen deutschen Sprachgebrauch kein sonderlich poetisches Wort, ist keine Vokabel, die einen weiten Assoziationsraum öffnet. Bisher jedenfalls. „Mutterboden“ bezeichnet die oberste, humushaltige und fruchtbarste Erdschicht einer Kulturfläche. Der „Mutterboden“, die „Muttererde“ oder auch „Ackerkrume“ ist eine überaus wichtige Lebensgrundlage für Pflanzen, Tiere und Menschen. Er ist eine wertvolle, endliche Ressource, allerdings gefährdet durch allerlei menschliche Eingriffe. Um den „Mutterboden“ weitestgehend zu bewahren, ist der Umgang mit ihm gesetzlich geschützt. Im deutschen Baugesetzbuch heißt es im Paragraph 202 mit der Überschrift „Schutz des Mutterbodens“: „Mutterboden, der bei der Errichtung und Änderung baulicher Anlagen sowie bei wesentlichen anderen Veränderungen der Erdoberfläche ausgehoben wird, ist in nutzbarem Zustand zu erhalten und vor Vernichtung oder Vergeudung zu schützen.“ - Soweit die nüchterne juristische Prosa.
Als die südkoreanische Künstlerin Hyunju Oh vor einiger Zeit und ganz beiläufig zum ersten Mal das Wort „Mutterboden“ gehört hat – so erzählte sie mir -, erspürte sie in dem ihr bis dahin unbekannten Wort die sprachliche Entsprechung zu dem, womit sie sich seit längerem in ihrer Kunst beschäftigt: mit dem Verhältnis von Mutter und Kind, mit Träumen und Traumata aus der Kinderzeit, mit der notwendigen Loslösung von Eltern und Kindern und schmerzhaftem Verlust, mit den erzieherischen, kommunikativen Verfehlungen und der dauerhaften Verbindung zwischen den familiären Generationen, mit der gegenseitigen Ent-Bindung zur Entfaltung der wie auch immer freien persönlichen Eigenständigkeit. Derart facettenreich und psychologisch-sozial interpretiert Hyunju Oh das Wort „Mutterboden“, das die eigentlichen deutschen Muttersprachler wohl kaum je so gedeutet und kontextualisiert haben.
“Meine Füße reichen nirgendwohin“, immersive audio drama installation, Saarländisches Künstlerhaus (2024) (Photo: Hyunju Oh)
Hyunju Ohs thematisch weit gespannte ästhetische Setzungen und Umsetzungen des Begriffes „Mutterboden“ – so heißt nun auch ein mehrteiliges Arbeitsprojekt der Künstlerin - verhandeln das ebenso weite Spannungsfeld zwischen der humusreichen und liebevollen Bestellung des Bodens für das Kind durch die Mutter – oder als krasses Gegenteil davon - das Wegziehen des Bodens unter den Füßen des Kindes durch die Mutter. Oder auch durch den Vater – denken wir an Franz Kafkas beeindruckenden „Brief an den Vater“.
Aber Hyunju Oh fokussiert und thematisiert aus verschiedenen Gründen, die sowohl konkret-persönlich sind wie auch eben weit über das Private hinaus ins Allgemeine greifen, die Mutter, das metaphorisch-symbolische Bild der Mutter samt der damit verbundenen Implikationen und Assoziationen. Und der Erinnerungen, der eigenen Erinnerungen, vor allem aus Kindertagen. Sie grundieren die meist mehr- und intermediale Kunst von Hyunju Oh. Vielfach sind es sogar traurige, schmerzliche Erlebnisse aus der Vergangheit der Künstlerin, die in ihren Arbeiten an die Oberfläche dringen und eben auch drängen, drängen wollen, drängen müssen. Diese Erfahrungen ergreifen sprechend oder stumm das ästhetische Wort. Und das in einer Weise, die nicht nur für Hyunju Oh allein gilt. Vielmehr ist es ein Arbeiten mit und ein Abarbeiten an Erlebnissen und Einschnitten, die wir alle selber mehr oder weniger auch kennen. Nicht immer ganz genau so, wie sie der Künstlerin widerfahren sind. Gleichwohl sind sie uns irgendwie vertraut.
„Meine Füße reichen nirgendwohin“ betitelt Hyunju Oh ihre eigens für das Saarländische Künstlerhaus geschaffene Installation. Sie besteht aus gesprochenem Text, Klang, Geräusch, Licht, Objekten in genauen Konstellationen und Proportionen. Man könnte meinen, die Installation sei ein skulptural-plastisches Bühnenbild, ein allein durch die akustischen Ereignisse imaginär in Bewegung versetztes Bühnenbild, in dem sich die Besucher übrigens frei bewegen dürfen. Man könnte auch meinen, die Installation sei ein Hörspiel, ein für den realen Raum geschaffenes Audio Drama mit sich laut und leise mitteilenden Objekten, die sich visuell konkret und dank der kalkuliert eingesetzten Schweinwerfer auch schattenhaft, wie halbnachts, artikulieren. Wobei das gesprochene Wort übrigens in seiner Mitteilungsprägnanz nicht dominanter zu werten ist als all die anderen Ingredienzien der Installationsarbeit.
“Meine Füße reichen nirgendwohin“, immersive audio drama installation, Saarländisches Künstlerhaus (2024) (Photo: Hyunju Oh)
Zugleich gibt es – wie nahezu immer in den Arbeiten von Hyunju Oh – eine selbst verfasste Story, eine kleine aus Erinnerungen abstrahierte Erzählung, eine lyrische, poetische Miniatur; meist ist es ein zu hörender Innerer Monolog. Sprecherin in der Installation „Meine Füße reichen nirgendwohin“ ist Anna Hensel. In der zweiten Arbeit im studio blau des Künstlerhauses – sie heißt „Wie ist es wohl jetzt dort?“ – spricht Hyunju Oh selbst. Es ist ein akustischer Brief an eine wohl einst geliebte und wohl verlorene Person, ein auf deutsch gesprochener Brief an einen Freund, an eine Freundin. „Wie ist es wohl jetzt dort?“ gehört im Übrigen nicht zu Hyunju Ohs 2023 begonnenem Werk-Zyklus „Mutterboden“; sie hat die Installation bereits 2021 realisiert. In dem Skript, das für die Installation um manche akustisch-semantische Elementarteilchen erweitert ist, heißt es u.a.: „Meine Kindheitserinnerungen sind verschwommen. / Vielleicht, weil meine Augen schlecht sind. / Ich wusste als Kind nicht, wie schlecht ich sehen kann. / Ich habe das selbst nicht bemerkt. / Ich habe geglaubt, dass das, was ich sehe, die wirkliche Welt ist.“
Und in der neuen Arbeit „Meine Füße reichen nirgendwohin“, die visuell auch geprägt ist durch viele Schnüre und Seile - gleich Verbindungslinien und Nabelschnur -, erklingen u.a. die zwei Sätze: „Ich wachte auf; nichts berührte meine Zehenspitzen“, und: „Der Atem ist die einzige Umarmung, die mich hält.“ Da also ist kein Boden, der trägt, und der, wäre er da, vielleicht auch nichtmals tragen könnte – Haltlosigkeit, Hilflosigkeit. Kein Mutterboden, obschon dieser, in welch wackeligen und vagen Zuständen auch immer, sowieso existent ist. Ein Leben lang.
Stefan Fricke (hr2-kultur / radio Frankfurt)