Perspectives & Words

"liebe.mutter" | KunstKulturKirche Allerheiligen – Forum für Moderne Kunst und Neue Musik | Dorothea Erbele-Küster (DE)


“Pain, unspecified”, Nassauischer Kunstverein Wiesbaden - Centre for Contemporary Art, Wiesbaden, Germany, 2022 (Photo: Hyunju Oh)

Zur Ausstellung „liebe.mutter“ von Hyunju Oh in der KunstKulturKirche Allerheiligen – Forum für Moderne Kunst und Neue Musik in Frankfurt am Main

Eröffnungsrede von Prof. Dr. Dorothea Erbele-Küster am 28. Juni 2024 

„Pain, unspecified“ (Schmerz. Nicht näher spezifiziert). So lautet der Titel der Performance von Hyunju Oh, die wir gerade hier in der KunstKulturKirche Allerheiligen erlebt haben. Die Performance wie auch die Klanginstallationen der Ausstellung „liebe.mutter“ sind offen für noch zu erzählende Geschichten und ermöglichen das Nachsinnen über Mutterbilder. Sie leben von der Teilnahme.

„Pain, unspecified“. Das nicht Spezifizierbare und das Nichtfassbare macht den Schmerz zum Schmerz. Schmerz ist maßlos. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er keinen Gegenstand hat. Schmerz ist objektlos. Obgleich Schmerz schwer näherbestimmt werden kann, sucht er nach Ausdruck und Mitteilung. Hier in der Performance findet er dies – in der Bewegung der Hände, im immer größer werdenden Riss. Hyunju Oh kniet auf dem Boden, auf der ausgerollten Papierbahn. Wir folgen ihren Händen. Die rechte Hand ergreift das Wasserglas, schüttet Wasser aus und streicht sorgfältig das Wasser aus, nimmt Bodenkontakt auf, und das so befeuchtete Papier wird dann eingerissen Stück für Stück. Das Wasser, das sich ausgießt, hat etwas Befreiendes und Heilendes. Der Stein bleibt. Ein Ritual, das zerreißt. Schmerz, der sich der Definition durch Sprache entzieht, wird Körpersprache. Schmerz als innere Sprache des Körpers wird nach außen mit dem Körper getragen.

“Pain, unspecified”, KunstKulturKirche Allerheiligen, Frankfurt am Main, Deutschland, 2024 (Photo: Thomas Orban)

“Pain, unspecified”, KunstKulturKirche Allerheiligen, Frankfurt am Main, Deutschland, 2024 (Photo: Thomas Orban)

Diese ältere Arbeit von Hyunju Oh (2019) wurde soeben im Kirchenraum aufgeführt und erhält dadurch einen neuen Kontext. Ein unendlich langer Weg vom Kreuz im Altarraum, bis der Schmerz endlich einen Ausgang findet und sich nach draußen ergießt. Im Kirchenraum wird Schmerz gewöhnlich in der Liturgie im Gebet laut und im Kruzifix am Altar abgebildet. Hier strömt auf das Kreuz durch den Lichtkegel von oben Licht. In die jüdisch-christliche Gebetssprache ist die Klage tief verwurzelt. “Mein Gott, mein Gott warum hast Du mich verlassen?“ In dem soeben zitierten Psalm 22 heißt es auch: „mein Herz ist ausgegossen wie Wachs“. Schmerz, der sich ausgießt. Der Schmerz wendet sich in der Performance nicht als Klageweg hin aufs Kreuz, vielmehr vollzog sie sich rückwärts vom Altar weg Richtung Ausgang. Die Blickrichtung zugleich damit auf Vater.Mutter Gott(es). 

“Pain, unspecified”, Nassauischer Kunstverein Wiesbaden - Centre for Contemporary Art, Wiesbaden, Germany, 2022 (Photo: Hyunju Oh)

Wir sehen die Performance heute auch im Kontext der Ausstellung „liebe. mutter.“ Das ruft nach einer Verbindung zum Mutterschmerz. Kindesschmerz. Unspezifiziert. Ist der Schmerz die Liebe? die Verbindung? der Riss? Ich höre das Kind sprechen: Mutter es schmerzt. Dein Kind. Ich höre die Mutter sprechen: Liebes Kind, Du schmerzt in mir. Es ist ein Riss, der immer größer wird. Deine Mutter. Die Fragen der Kinderstimme verborgen im Schrank (Audio-Installation „hier, anderswo“) mischen sich bereits hinein: „Wo bin ich? Wo bin ich? Ist es dort hell? Ist es dort grausam?“

“hier, anderswo”, KunstKulturKirche Allerheiligen, Frankfurt am Main, Deutschland, 2024 (Photo: Thomas Orban)

Als ich die Performance „Pain. Unspecified“ von Hyunju Oh in Mainz auf dem Rundgang der Abschlussklasse der Hochschule für Kunst vor ein paar Jahren zum ersten Mal sah, kam mir das sinokoreanische Wort „Han“ in den Sinn, das ich im Kontext der südkoreanischen Minjung-Bewegung und Theologie kennengelernt hatte. „Han“ steht in diesem Kontext für das unaussprechliche Leiden des Volkes unter der Militärdiktatur. „Han“ findet laut Auskunft meiner koreanischen Freund*innen nie im Alltag für Schmerz Verwendung. „Han“ ist der Schmerz der Ungehörten, das Leiden des Volkskörpers, der Mutter, die ihr Kind im Aufstand verloren hat. Unübersetzbar. Han. Aufbegehren. Erregung. Wut. Schmerz. Der Mutter gegen Unrecht. Der Riss im Mutter.Leib durch einen Riss im Papier.

Es ist eine Kunst, eine ÜberLebenskunst, Schmerz so ausdrücken zu können, dass das nicht Definierbare, das zutiefst persönliche veräußert werden kann und dabei offen ist für den fremden Schmerz. Hyunju Oh findet eine Körper-Sprache, einen Klang dafür: das Papier, das reißt. In der Performance „Pain. Unspecified“ vereinigen sich die facettenreichen Dimensionen der vielfach mit Preisen ausgezeichneten Künstlerin, die in Frankfurt arbeitet: Sie ist Poetin, Performancekünstlerin, Materialkünstlerin, Klangkünstlerin.

“Ein Brief”, KunstKulturKirche Allerheiligen, Frankfurt am Main, Deutschland, 2024 (Photo: Jens Gerberg)

“Ein Brief”, KunstKulturKirche Allerheiligen, Frankfurt am Main, Deutschland, 2024 (Photo: Jens Gerberg)

“Unterm Schaten”, KunstKulturKirche Allerheiligen, Frankfurt am Main, Deutschland, 2024 (Photo: Jens Gerberg)

Wir sind hier in der KunstKulturKirche Allerheiligen umgeben von Klanginstallationen. Die Kirche wird ein Hörraum. Die beiden Arbeiten „Unterm Schatten“ und „Ein Brief“ sind Premieren. Bei „Unterm Schatten“ (2024) stapeln sich im freien Kirchenraum auf einem Bänkchen sorgfältig gefaltete Decken. Weiß. Frisch. Sie decken zu. Mutter hat mich zugedeckt. Eine Atemhöhle. Was wird „Unterm Schatten“ verborgen und was kann zum Klingen kommen? 

„Ein Brief“ ist eine kleine Audio-Installation, klanglich angesiedelt an einer alten Fensterscheibe. Wir hören einen Brief mit fünf Stimmen in verschiedenen Sprachen. Die Adressatin des Briefes wird benannt: Liebe Mutter. Für den Rest benötigt die Arbeit uns. In der Stille, in unserem Lauschen werden die Briefe zu stillen inneren Gebeten. Liebe Mutter. Dein Kind oder Deine Tochter. Die Angesprochene ist anwesend in der Anrede. Sie bleibt abwesend. Wir hören nur die Stimme des Kindes. Die Arbeit „Ein Brief“ markiert die Mutter und sucht nach der Mutter. 

Die Anrede „Liebe Mutter“ wird zur Anrede an die Mutter Gottes für einen Moment. Hier im schlichten KunstKulturKirchen-Raum nehmen wir erst beim Verlassen die Schutzmantelmadonna im Eingangsbereich wahr. Maria, die Mutter Gottes wird durch die Klanginstallation präsent. Im Kirchenraum sprechen wir gewöhnlich: Vater unser, Lieber Vater. Vater im Himmel. Hier nun Mutter auf Erden. Liebe.Mutter. Eine Anrede zur anwesend abwesenden Mutter. Ein BriefGebet.

„liebe.mutter“. Der Titel der Ausstellung stellt zwei beladene Begriffe zusammen in einem Wortspiel. Die beiden Wörter trennt ein Punkt. Eine Atempause. Die beiden Wörter erhalten ein Eigenleben. Liebe einen Eigenwert. Mutter hören wir fast immer als Anredeform. Liebe.Mutter. Der Punkt ermöglicht auch rückwärts zu lesen: Mutter.Liebe.

Die multiversale Performance-, Sound- und Silence- Künstlerin Hyunju Oh lässt in den Installationen in der Ausstellung „liebe.mutter“ gestaltete Freiräume entstehen. Sie weitet damit das Mutterbild und befreit es von Stereotypen. Liebe.Mutter. 

„Mutter.Boden“ lautet das Thema, das Hyunju Oh zurzeit bearbeitet. Die Sound-Silence-Künstlerin übersetzt die Ambivalenzen, die Sehnsucht und die Wucht des existenziellen Themas „Mutter“ in Atem, Sprachfragmente und imaginative Klang-Bilder. Sie widersteht dabei, Klischees von Mutterbildern zu reproduzieren. Wir sind eingeladen hier in der KunstKulturkirche zu lauschen.


Prof. Dr. Dorothea Erbele-Küster (Johannes Gutenberg Universität)